Bei unserem Thema handelt es sich nicht um eine Krisensituation per se. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die verschiedenen Konzeptionen, die Deutschland und Frankreich von Europa haben, zu analysieren und zu hinterfragen. Die divergierenden Ansätze der beiden Kernländer Europas sind historisch und kulturell begründet und gewachsen: Während Deutschland seit Beginn die Vertiefung und Erweiterung der EU - vor allem im Hinblick auf die wirtschaftlichen Vorteile durch einen größeren Binnenmarkt - stets begrüßt hat, steht Frankreich dem „Konstrukt Europa“ skeptischer gegenüber. Die Franzosen betrachten das stete Zusammenwachsen Europas auch als Gefahr des Verlustes nationaler Souveränität, und sie betrachten mitunter die wirtschaftliche Stärke - manche reden gar von einer „Übermacht“ - Deutschlands und dessen Vormachtstellung in Europa mit Argwohn. Diese kurze und sehr überspitzte Betrachtung der Europakonzeptionen von Frankreich und Deutschland hat sich im Laufe der Jahrzehnte jedoch auch gewandelt und hängt von diversen Einflussfaktoren ab (wie beispielsweise der jeweiligen Regierungspartei, der innenpolitischen Situation, gesellschaftlicher Umbruchs-Phasen, der wirtschaftlichen Gesamtsituation, etc.). Die Grundansätze der beiden Länder sind jedoch stabil geblieben.
Ferner lässt sich am Beispiel dieser vergleichenden Betrachtung von Deutschland und Frankreich auch die Frage unterschiedlicher Europakonzeptionen in einen größeren Rahmen stellen und sie auf die EU 27 ausweiten. Jedes Land hat eine eigene Konzeption und Einstellung zum steten Zusammenwachsen Europas. Je nach geographische und historische Bedeutung des jeweiligen Landes innerhalb Europas ist das Interesse an einer Vertiefung unterschiedlich stark ausgeprägt. In diesem Sinne handelt es sich bei unserem Diskussionsthema um ein wahrhaft europäisches Thema und sicherlich schwingt hierbei, wie auch bei allen anderen europäischen Angelegenheiten oftmals die Sorge der restlichen EU-Länder mit, dass Deutschland und Frankreich eigentlich die europäische Frage unter sich ausmachen und als alleinige handlungsmächtige Akteure und Vetospieler auftreten. Fraglich ist, ob diese Leitfunktion des deutsch-französischen Paares tatsächlich ausnahmslos diskreditiert wird oder unter bestimmten Umständen toleriert, oder gar erwünscht ist. (1)
Es darf nicht darum gehen, unterschiedliche Europakonzeptionen „glattzubügeln“ und zu vereinheitlichen. Vielmehr muss man die Vielfalt der europäischen Länder in Bezug auf deren Einstellungen, Perspektiven und Handlungsansätzen zu Europa als Bereicherung wahrnehmen. Daher ist es in unseren Augen wichtig, ein Bewusstsein zu schaffen dafür, dass „Europa“ nicht von allen BürgerInnen und Ländern als eine „Einheit“ oder als gleiches Gebilde angesehen wird. Vielmehr unterliegt den verschiedenen Europakonzeptionen die Dynamik und die Lebhaftigkeit, aus der Europa seine Kraft schöpft und weiter wachsen und - hoffentlich auch - gedeihen kann. Gleichzeitig ist uns durchaus ersichtlich, dass dieser Wettbewerb der Europakonzeptionen lediglich auf der Grundlage eines gemeinsamen Wertekatalogs (Demokratie, Rechtsstaatsprinzip, Menschenrechte, etc.) stattfindet, der als Mindeststandard dient und unsere Zusammenarbeit überhaupt ermöglicht.
Ob Europa nun auf eine mögliche politische Union, auf die „Vereinigten Staaten Europas“ zusteuert oder vielmehr durch die derzeitige Schulden-, €- und Griechenlandkrise stärker nationale Tendenzen Oberhand gewinnen, ist nicht eine Frage, die von den einzelnen EU-Mitgliedsländern entschieden werden kann. Europa besteht aus derzeit 27 Staaten und soweit nicht alle mehr oder minder an einem Strang ziehen, wird diesem politischen supranationalen Gebilde eine schwere Zukunft bevorstehen. Heute wird man sich besonders bewusst darüber, wie interdependent die Mitgliedsländer sind, wodurch jegliches eigenmächtiges Handeln oder Ignorieren der aktuellen Probleme anderer EU-Länder keine Lösung und gemeinsames Handeln Aller erforderlich ist.
__________________________
(1) „Ich bin wahrscheinlich der erste polnische Außenminister der Geschichte, der das sagt, aber hier ist es: Ich fürchte mich weniger vor Deutschlands Macht, sondern beginne mich mehr vor Deutschlands Untätigkeit zu fürchten. Sie sind Europas unverzichtbare Nation geworden. Sie dürfen bei der Führung nicht versagen. Nicht dominieren - sondern führen bei den Reformen. Vorausgesetzt, Sie binden uns bei Entscheidungen ein, wird Polen Sie unterstützen.“
(Polnischer Außenminister Radoslav Sikorski, 30.11.2011)
http://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article13742469/Deutschland-muss-staerker-fuehren.html