Von Stabilitätsaposteln und Wachstumsfanatikern
Prof. Dr. Henrik Uterwedde, Deutsch-Französisches Institut Ludwigsburg
In den Auseinandersetzungen um die Überwindung der Krise der Europäischen Währungsunion stehen sich oft zwei Denkschulen, zwei Lager gegenüber, die unterschiedliche Rezepte vorschlagen – und oft kein gutes Haar an ihren Kontrahenten lassen.
Die einen – nennen wir sie, etwas überspitzt, die Stabilitätsapostel – sehen die Wurzel allen Übels in der übermäßigen Staatsverschuldung. Wenn ein Staat auf die Dauer mehr ausgibt als er einnimmt, häuft er immer mehr Schulden an. Immer mehr muss er für Zinsen bezahlen, und am Ende droht die Situation vollends aus der Kontrolle zu geraten. Dann ist guter Rat – im wahrsten Sinne des Wortes – teuer, wie das Beispiel Griechenland zeigt: Der Staat kein seine Schulden nicht mehr bezahlen und hat oft nicht einmal mehr Geld für das Notwendigste. Um einen Zusammenbruch zu vermeiden, müssen teure Rettungsaktionen her – immer wieder neue Kredite, um alte Schulden zu begleichen. Dies droht die Nachbarn ebenso zu überfordern, wie die harten Sparauflagen, die mit den Hilfen verbunden werden, den verschuldeten Staat überfordern und ihm jede Perspektive rauben. Ein Albtraum! Und glauben wir nicht, dies betrifft nur Griechenland: Fast alle europäischen Staaten haben derart hohe Defizite angehäuft, dass sie jederzeit in die Schuldenfalle geraten können.
Deshalb, so die Stabilitätsapostel, darf man es gar nicht erst dazu kommen lassen. Strenge Regeln für eine solide Haushaltsführung müssen her, die auch effektiv überwacht werden und Stabilitätssünder mit Sanktionen bedrohen. In jedem Staat, so will es der kürzlich beschlossene europäische Fiskalpakt, soll eine Schuldenbremse eingeführt werden – am besten, wie in Deutschland, in der Verfassung. Damit sollen die Politiker sich selbst vor der Versuchung schützen, Probleme immer wieder mit dem vermeintlich einfachsten Mittel zu lösen: neuen Schulden. Schließlich haben sich alle Länder der Eurozone verpflichtet, ihre gegenwärtig zu hohen Defizite und Staatsschulden schrittweise zurückzuführen und künftig möglichst ausgeglichene Haushalte zu präsentieren.
Diese Vorschläge aber lassen die Alarmglocken bei den Wachstumsfanatikern – so wollen wir sie ebenso überspitzt bezeichnen – klingeln. Mit der überzogenen Sparpolitik, die jetzt überall in Europa verordnet wird, werde die Konjunktur kaputt gespart; das Wachstum wird abgewürgt, es droht eine Rezession. Denn wenn der Staat immer weniger ausgibt und immer weniger investiert, ist dies Gift für die Wirtschaft, und notwendige öffentliche Aufgaben bleiben unerledigt. Die Folge: Weniger Steuereinnahmen, weniger Beitragszahler für die Sozialversicherung, mehr Ausgaben (für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger) – am Ende droht das staatliche Defizit sich krisenbedingt weiter zu erhöhen.
Auch die Wachstumsfanatiker sehen das Problem der steigenden öffentlichen Verschuldung. Ihr Weg ist aber nicht eine Sparpolitik um jeden Preis, sondern im Gegenteil eine Politik, die für mehr Wachstum sorgt – auch auf Kosten kurzfristig steigender Defizite. Denn nur mehr Wachstum generiert die notwendigen Einnahmen, um langfristig die staatlichen Haushalte wieder auszugleichen.
Auch wenn es manchmal so scheint, als ob Deutschland zu den Stabilitätsaposteln und Frankreich (wie andere EU-Staaten) zu den Wachstumsfanatikern zählt: In jedem Land gibt es beide Positionen, auch wenn sie in jedem Land unterschiedlich stark sind. Sie sind Teil einer notwendigen demokratischen Auseinandersetzung um den besten Weg, um auf Dauer mehr Wachstum und Beschäftigung bei soliden öffentlichen Finanzen zu erreichen. Denn letztlich sind sich die meisten Menschen einig: Auf Dauer sind Stabilität und Wachstum gleichermaßen wichtig, damit die europäische Wirtschaft wieder auf einen grünen Zweig kommt. Umstritten ist der beste Weg dahin. Hier stehen sich, fachwissenschaftlich gesprochen, Vertreter der Nachfragepolitik und der Angebotspolitik gegenüber, die unterschiedliche Antworten auf Fragen geben wie diese: Wie kann man so sparen, dass die Wirtschaft nicht zu stark gebremst wird, etwa durch zeitliche Streckung der Sparprogramme? Wie kann man gleichzeitig Impulse für mehr Wachstum geben? Muss Wachstum eigentlich immer nur mit öffentlichen Defiziten erzeugt werden? Muss man nicht unterscheiden zwischen Schulden für mehr Konsum (fragwürdig) und für mehr Investitionen (gut, weil damit Wachstumschancen für morgen verbessert werden)?
Experten können helfen, mögliche Antworten zu bewerten, indem sie auf Wirkungen und mögliche Fehlentwicklungen hinweisen. Letztlich verlangen diese Fragen aber auch eine politische Wertung. Deshalb darf – und muss – darüber gestritten werden: in den einzelnen Ländern, aber am besten auch auf europäischer Ebene.