Prof. Dr. Sievering und Dr. Rucinska*,
Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg
Die Maastricht-Kriterien und die Probleme ihrer Einhaltung
Die Mitgliedstaaten der EU haben sich 1992 durch den so genannten Vertrag von Maastricht verpflichtet, bestimmte (insgesamt vier) Konvergenzkriterien (häufig als Maastricht-Kriterien bezeichnet) einzuhalten. Um die Verschuldung in Grenzen zu halten, sind folgende 2 Maastricht-Kriterien wichtig:
• Die Gesamtverschuldung darf nicht mehr als 60 % des Bruttoinlandsproduktes betragen.
• Die jährliche Neuverschuldung darf nicht mehr als 3 % des Bruttoinlandsproduktes betragen,
wobei das Bruttoinlandsprodukt den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen angibt, die innerhalb eines Jahres in einem Land hergestellt wurden und dem Endverbrauch dienen.
Ziel dieser Kriterien ist die Förderung und Gewährleistung von Stabilität und Wachstum im Euroraum. Die Einhaltung dieser Kriterien soll verhindern, dass sich der finanzielle Handlungsspielraum der Euroländer verringert und insgesamt eine Unsicherheit bezüglich des Euros entstehen könnte. Verschuldet sich ein Land zu sehr, so werden die Anleger zunehmend skeptischer, ob das Schuldnerland seinen Kreditverpflichtungen auch wirklich nachkommen kann.
Dies führt zu einem Vertrauensverlust gegenüber dem Land und der Währung, der so weit gehen kann, dass die Anleger diesem Land kein Geld mehr leihen werden und auch nicht mehr bereit sind, in diesem Land zu investieren. Zudem konnte in der Vergangenheit immer wieder beobachtet werden, dass Länder, die ihre Schulden nicht mehr begleichen konnten, sich ihrer Notenpresse bedient haben. Sie haben ihre Notenbanken angewiesen, Geld zu drucken und es den Gläubiger-Staaten als Kredit zu geben. Dieses Geld ist in den Kreislauf gelangt und führte oftmals zu einer Inflation. Dies konnte man auch in Deutschland im Jahr 1923 beobachten, als es seine Reparationsforderungen aufgrund des verlorenen ersten Weltkrieges kaum nachkommen konnte und ihre – damals von der Regierung weisungsabhängige Notenbank anwies, Geld zu drucken. Folge war eine Hyperinflation, die zahlreiche Spareinlagen rasch entwertete. Die Lehre aus diesen Ereignissen war, dass insbesondere Deutschland darauf drängte, die Europäische Zentralbank weisungsunabhängig gegenüber den Regierungen der EU auszugestalten.
Unter Ökonomen ist allerdings umstritten, inwiefern die oben genannten Konvergenzkriterien tatsächlich geeignet sind, um den wirtschaftlichen Zusammenhalt der Euroländer zu gewährleisten. Die Väter der Maastricht-Verträge haben das Schuldenstands- und Haushaltsdefizitskriterium nach einer Faustformel festgelegt. Zu Beginn der 90iger Jahre, als über
die Europäische Währungsunion beraten wurde, betrug der durchschnittliche Schuldenstand in den EU-Ländern ca. 60 % des BIP. Unter der sehr optimistischen, schon fast unrealistischen Annahme einer jährlichen Wachstumsrate des BIP in Höhe von 5 % würde dies bedeuten, dass
bei einer jährlichen Neuverschuldung in Höhe von 3 % des BIP, der Schuldenstand insgesamt auf einem Niveau von 60 % verharren würde (3 / 5 = 60 %).
In dem kompletten Beitrag, den ihr euch unten als PDF runterladen könnt, wird die an einem fiktiven Beispiel verdeutlicht.
Es entbrannte recht schnell die Frage, wie streng diese Kriterien ausgelegt werden sollen. Es gab einige Länder, so wie Deutschland unter dem damaligen Finanzminister Theo Waigel, das auf eine strikte Einhaltung dieser Kriterien beharrte. Trotzdem wurden bei der Gründung der Währungsunion die Konvergenzkriterien nicht ganz strikt ausgelegt. Die meisten Mitgliedsstaaten
hielten diese Kriterien formal ein, aber in Italien, Griechenland und Belgien lag der gesamte Schuldenstand im Vorfeld der Euro-Einführung zum Teil deutlich über der Grenze von 60 % des BIP.
Zwar sollen beide Verschuldungskriterien eingehalten werden, allerdings steht das Kriterium der jährlichen Neuverschuldung von 3 % im Mittelpunkt der jährlichen Betrachtung, weil im Laufe der vergangenen Jahre - seit der Einführung des Euros - viele Länder das Kriterium der 60 Gesamtverschuldungsmarke zum Teil deutlich überschritten haben und in den kommenden Jahren kaum eine Chance haben, wieder auf dieses Maß kommen zu können. Falls das Haushaltsdefizit eines Landes 3 Prozent überschreitet, startet die Europäische Kommission ein Verfahren. In einer ersten Stufe müssen die betroffenen Länder einen Plan vorlegen, wie sie das
Defizit abzubauen gedenken. Gelingt ihnen das nicht, so können gemäß Artikel 126 AEUV Sanktionen, letztlich „Geldbußen in angemessener Höhe“ verhängt werden. Frankreich und Deutschland, welches in den 90iger Jahren (öffentlich) für eine besonders strikte Einhaltung der Kriterien plädierte, waren die beiden Länder, die das Kriterium der jährlichen Neuverschuldung von 3 % als erste nicht mehr einhalten konnten. Eine Sanktion aber blieb aus. Die Entscheidung
über eine Sanktion muss letztlich vom Ministerrat der EU mit qualifizierter Mehrheit gebilligt werden. Hieran entzündet sich Kritik, denn „eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“. Das bedeutet, dass es den Ministern schwerfällt, Sanktionen gegen ein anderes Land auszusprechen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass man selbst auch einmal in eine Haushaltsnotlage
kommen könnte und man dann auch gerne mit der Nachsicht anderer rechnen möchte.
Aufgrund der allgemeinen Wirtschafts- und Finanzkrise konnte in den vergangenen Jahren kaum ein Land das 3%-Kriterium einhalten. Irland hatte im Jahr 2010 das größte Defizit aller Euro-Länder. Das Defizit in der Staatskasse erreichte eine Höhe von 32,4 Prozent der irischen Wirtschaftsleistung (BIP).
Griechenland kam auf ein Defizit von 10,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Auf der rechten Seite ist die Gesamtverschuldung in Relation zum BIP zu erkennen. Hier zeigt sich, dass auch Deutschland die 60 % Marke deutlich verfehlt und in den nächsten Jahren keine Chance hat, dieses Kriterium zu unterbieten. Es ist auch zu erkennen, dass Spanien, welches in den vergangenen Wochen vermehrt in den Schlagzeilen war, eine deutlich niedrigere
Gesamtverschuldung aufweist als Deutschland. Deutschland gilt zwar immer als ein „Musterland“, liegt aber hinsichtlich der Gesamtverschuldung lediglich im Mittelfeld der europäischen Staaten. Dies liegt unter anderem daran, dass Deutschland nach der Wiedervereinigung erhebliche Schulden aufgenommen hat, um die Lasten der Wiedervereinigung zu finanzieren.
* Oliver Sievering ist Professor an der Hochschule für Verwaltung und Finanzen in Ludwigsburg. Zu seinen Schwerpunkten gehören Finanzpolitik und Gesundheitsökonomie. Silvia Rucinska ist Spezialistin der slowakischen Wirtschaft sowie für die Bereiche Wirtschaftspolitik, Wirtschaftstheorie und den Transformationsprozess in Osteuropa.